Dem Armen hilf, den Bettler verjag – Die Stadt St. Gallen reorganisiert die Sozialfürsorge

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Einleitung
Dem Armen hilf, den Bettler verjag – Die Stadt St. Gallen reorganisiert die Sozialfürsorge
Ms 72, S. 131r

In St. Gallen gab es wie andernorts auch viele notleidende Menschen: einerseits St. Gallerinnen und St. Galler, andererseits Bettler von auswärts, die von Stadt zu Stadt zogen. Mit der Reformation ordnete die Stadt St. Gallen die Sozialfürsorge grundlegend neu. Die städtische Obrigkeit liess in der Pfarrkirche deshalb eine Opferbüchse – den Stock – aufstellen. Einzug und Austeilung des gesammelten Geldes wurde im städtischen Mandat vom 8. Juni 1524 geregelt. Damit wollte die St. Galler Obrigkeit gegen das Betteln in der Öffentlichkeit vorgehen. Zwei Aspekte störten sie besonders: Einerseits gab es falsche Bettler, die ihre Bedürftigkeit nur vortäuschten. Andererseits wollte man schwangere Frauen vor dem Anblick von Gebrechen und Missbildungen schützen. Vor der Reformation hatte man mit dem Geld, das man einem Bettler zusteckte, auch für sein eigenes Leben im Jenseits vorgesorgt. Durch Gaben an Arme konnte man bewirken, dass die Seelen – die eigene und diejenigen seiner Angehörigen – weniger lange im Fegefeuer schmoren mussten und schneller in den Himmel kamen. Bis zur Reformation waren in der Stadt St. Gallen viele sogenannte Jahrzeitstiftungen eingerichtet worden: Gegen eine bestimmte Summe Geld las der Pfarrer am Jahrestag des Toten zu dessen Gedenken eine Messe. Reiche St. Galler ergänzten die Stiftung um Speisen oder Geld für die Armen. Wer die Armen unterstützte, begünstigte sein eigenes Seelenheil. Dies widersprach der reformierten Lehre, weil man gemäss dieser Gottes Entscheidung, wer in den Himmel kommen sollte, nicht durch gute Taten oder Geld beeinflussen konnte. Stattdessen appellierte die städtische Obrigkeit an die Barmherzigkeit der Menschen im Diesseits. In diesem Mandat vom 8. Juni 1524, das einzig in der Reformationschronik von Johannes Kessler überliefert ist, regelte die Stadt, wie und wann Almosen eingesammelt wurden und wer Anspruch auf Unterstützung hatte. In der städtischen Pfarrkirche St. Laurenzen wurde zu diesem Zweck eine Opferbüchse aufgestellt. Jeden Sonntag ermahnte der Pfarrer die Gottesdienstbesucher, Geld zur Unterstützung [Erhalt] der Armen zu spenden. Zu diesem Zweck gingen zusätzlich zwei Ratsherren in der Kirche mit einem Beutel [Seckli] herum. Da alle Stadtbürgerinnen und Stadtbürger zum Gottesdienst verpflichtet waren, war der soziale Druck gross: Jeder sah, wieviel Geld sein Nachbar für die Armen gab.


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Übung
Dem Armen hilf, den Bettler verjag – Die Stadt St. Gallen reorganisiert die Sozialfürsorge
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Resultat
Dem Armen hilf, den Bettler verjag – Die Stadt St. Gallen reorganisiert die Sozialfürsorge
Die Transkription lautet:
Item wie dann bißhär zuo Sant Gallen allerlay Buobery
under dem Schin der Armuot und des Bettels und merentail von den
frombden Bettler und Landsstrichern, die den notturfftigen und hußarmen
Luten fur geloffen sind, erzaigt habend, und dann och bißhar die armen
Bresthafftigen mitt Erzaigung irer groser Schaden vor den Kirchen und
uff den Gassen gesessen und gelegen, dardurch schwanger Frowen
offt in irem Fürgang treffenlich erschrocken, darzuo der Hußarmer
Kinder nachts uff der Gassenn mercklich erfroren sind,
habend daruff mine Herren Burgermaister, klain und groß Rädt der
statt S Gallen Gott dem Allmechtigen zuo Lob und Er und uß bruoderlicher
Liebe von des Bettels wegen und der armen Lüten diß nachvolgend
Ordning angesechen. Und die wil sollich nachvolgend Ordning, Under-
haltung der Armen, des Jars an mercklich Sumu Gelt erforderet, ist des-
halb ain sunder Stock in der Pfarrkirchen zuo Sant Laurentzen gesetz
Erörterung:
[...] Ebenso weil sich dann bis anhin in St.Gallen allerlei Unfug [Buobery] unter dem Schein [Schin] der Armut und des Bettels, insbesondere [merentail] durch fremde Bettler und Landstreicher, die den auf Hilfe angewiesenen und armen Leuten zuvorgekommen sind, sich gezeigt hat, und zudem auch bisher die armen Kranken [Bresthafftigen] unter Zurschaustellung [mitt Erzaigung] ihrer grossen Gebrechen vor den Kirchen und in den Gassen gesessen und gelegen sind und dadurch schwangere Frauen, beim Vorbeigehen (vom Anblick) getroffen, erschrocken sind, des weiteren die Kinder der Armen [der Hußarmer Kinder] nachts auf den Strassen erforen sind, haben darauf meine Herren, Bürgermeister, der kleine und grosse Rat der Stadt St.Gallen Gott dem Allmächtigen zu Lob und Ehre und aus brüderlicher Zuneigung wegen des Bettelns und wegen der armen Leute diese nachfolgende Ordnung geschaffen. Und weil diese nachfolgende Ordnung für den Unterhalt der Armen pro Jahr eine bestimmte Summe Geld erfordert, wird deshalb ein besonderes Behältnis [Stock] in der Pfarrkirche St. Laurenzen aufgestellt [...]

Mit dem in der Kirche gesammelten Geld, ergänzt um Legate von reichen Städtern, wurden in erster Linie hausarme Menschen unterstützt. Dies waren notdürftige St. Galler Bürgerinnen und Bürger, die nicht auf der Strasse bettelten, sondern zuhause blieben. Dazu gehörten kranke und behinderte Menschen, aber auch Menschen, die trotz ihrer Arbeit nicht genügend Geld für das tägliche Leben hatten. Vielfach waren dies Handlanger, Erntehelfer und Hilfsarbeiter, die kein regelmässiges Einkommen hatten. Das Phänomen der "working poor" ist also nicht auf die moderne Zeit beschränkt. Jeden Freitag verteilte eine Kommission von Ratsherren den Inhalt aus der Armenkasse unter den bedürftigen Stadtbürgern. Im Gegenzug war es ihnen verboten, öffentlich zu betteln. Das Betteln in der Stadt war einzig den Armen aus der näheren Umgebung erlaubt. Fremde Menschen von weit her hatten weder das Recht, auf Stadtgebiet zu betteln, noch hatten sie Anspruch auf die Unterstützung aus dem Armenstock. Sie durften eine Nacht im Seelhaus, der Krankenherberge, schlafen und mussten am nächsten Morgen die Stadt verlassen. Mit auf den Weg gab man ihnen einen Zehrpfennig. Waren es Aussätzige, d.h. an Lepra erkrankte Menschen, so wurden sie für eine Nacht im St. Galler Siechenhaus, dem Haus für die Leprösen, untergebracht und am nächsten Morgen mit einem Zehrpfennig fortgeschickt. Allen war es strengstens verboten, innert einer Frist von einem halben Jahr wieder in die Stadt zu kommen. Um die Verwaltung des im Stock gesammelten Geldes kümmerte sich bald das neu eingerichtete Stockamt. Als Dominik Zili, langjähriger Prediger und wichtiger Wortführer der St. Galler Reformation, 1546 kinderlos starb, vermachte er dem Stockamt sein Erbe. Im ersten Rechnungsbuch des Stockamts, das im Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde aufbewahrt wird, ist notiert: "Dominicus Zili hat armen Lüten im Stock sin Hab und Gut verordnet." Allerdings behielt er seiner Ehefrau Katharina Vonwiler das Recht vor, bis zu ihrem Tod von diesem Geld Gebrauch zu machen. Das Almosenmandat von 1524 war der Anfang einer neuen Fürsorgepolitik. Wer ein städtisches Almosen erhielt, hatte strenge Vorschriften über seine Lebensführung einzuhalten. Almosenempfänger durften kein Wirtshaus betreten [in kain Ürten gon] und unterstanden dem Spielverbot [och kain Spil thuon]. Nach Meinung des Chronisten Johannes Kessler wollte man verhindern, dass ehrbare Bürger durch betrunkene, faule und dem Geldspiel verfallene Almosenempfänger vom Spenden abgehalten würden. Vermutlich stärker wiegte aber der Grund, dass man das Verhalten der armen Leute kontrollieren und einschränken wollte. Wer Geld aus dem Stockamt bezog, musste spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Erkennungszeichen tragen: die Männer am Hut und die Frauen am linken Arm. Dass sich die Situation für die Armen durch diese Neuordnung des Armenwesens in der Reformation verbesserte, ist zu bezweifeln. Armut blieb eine Konstante der Gesellschaft, ob sichtbar oder unsichtbar.
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